Begründung für das Speisegesetz in 3. Mose 11

Von Zeit zu Zeit ist immer wieder die berechtigte Frage gestellt worden, weshalb unreine Tiere für menschlichen Verzehr und als Nahrungsquelle verboten oder ungeeignet sind. Dafür gibt es mehr als ein Dutzend Erklärungen. (50) Sie können hier nicht im Detail behandelt werden. Da wir nicht allen von ihnen innerhalb dieser begrenzten Ausarbeitung unsere Aufmerksamkeit schenken können, mag es vernünftig sein, einige der bedeutenderen zu behandeln.

Eine schon vor vielen Jahren vertretene Auffassung besagt, dass unreine Tiere wegen ihrer Verbindung mit heidnischen Religionen als unrein angesehen werden. (51) Zugunsten dieser religiös-kultischen Erklärung spricht, dass es eine Anzahl unreiner Tiere gibt (speziell das Schwein, (52) aber auch der Hund etc.), die in ägyptischen, kanaanitischen und anderen heidnischen Kulten verwendet wurden. (53) Dagegen spricht, dass nicht alle unreinen Tiere in heidnischen Kulten benutzt wurden (54) und dass auch einige reine Tiere (wie Stier, Kuh, Schafbock, Ziege und einige reine Fische) bei heidnischen Kulten Verwendung fanden. (55)

Auch gibt es nirgendwo im Pentateuch einen Hinweis darauf, dass heidnische Kulte eine Rolle spielen. W. Robertson Smith hat einen früheren Gedanken aufgegriffen (56) und das Konzept entwickelt, dass die rein/unrein-Unterscheidung von Tieren ein Überbleibsel des Totemismus ist. (57)

In dieser Meinung hat sich ihm besonders Bernhard Stade angeschlossen. (58) Totemismus ist der Glaube an die Verwandtschaft des Menschen mit Tieren und Pflanzen. "Der heilige Charakter des Totem schließt besondere Tierarten als gewöhnliche Nahrung aus, aber dass Totemtier ist das Opfer ritueller Stammesmahlzeiten." (59) Die Totemismus-Interpretation ist wegen ihrer Unzulänglichkeit (60) und wegen des fehlenden Beweises für einen Totemismus im Alten Testament aufgegeben worden. (61)

W. Kornfeld, der auf dem Gebiet der Religion mit der Phänomenologie einen Annäherungsversuch machte, schlug vor, dass der Gedanke von unreinen Tieren durch bekannte Fleischfresser und Lebewesen entwickelt wurde, die Kadaver und Tiere fraßen, die an wüsten oder öden Plätzen und in Ruinen neben "chthonic" Tieren lebten. (62) Mit anderen Worten: Die unreinen Tiere waren lebensbedrohend. Der Hauptgrund, weshalb sie disqualifiziert wurden, muss in ihren lebensbedrohenden Praktiken und Existenzsphären gesucht werden. (63) Es ist schwierig, auf der Basis des AT genügend Unterstützung für diese Behauptungen zu finden. "Diese Theologie", so ist festgestellt worden, "kann die Ausschließung derartig domestizierter, pflanzenfressender Tiere wie Kamel, Esel, Kaninchen oder Pferd nicht erklären." (64) Daher bleibt diese Hypothese unbefriedigend und hat nicht viele Anhänger für sich gewinnen können.

Eine sozial-anthropologische Erklärung wurde vorgeschlagen und ist in letzter Zeit von einer wachsenden Anzahl Gelehrter übernommen worden. Mary Douglas, eine Sozialanthropologin, die die Durkheimische Hypothese verwendet, dass die Tierklassifikation soziale Werte reflektiert, hat darauf hingewiesen, dass "jede Interpretation, die die "Du-sollst-nicht-Aussagen" des Alten Testamentes bruchstückweise übernimmt, versagen wird." (65)

Douglas bringt die biblischen Aussagen über die Tiere in Verbindung mit dem Lelestamm in Afrika, der komplizierte Speisevorschriften hat. Sie legt nahe, dass die Tierarten, die in 3. Mo 11 als unrein erklärt werden, jene Tiere sind, "die in ihrer Klasse unvollkommen sind oder deren Klasse das allgemeine Schema der Welt in Unordnung bringt." (66) Sie verbindet dies mit dem Konzept der Heiligkeit, das einschließt, dass der "Unterschied der Schöpfungskategorien aufrechterhalten wird."(67)

Sie macht geltend: "Um dieses Schema zu begreifen, müssen wir zum 1. Buch Mose und der Schöpfung zurückgehen. Hier wird eine dreifache Klassifikation entfaltet, die zwischen Erde, Wasser und Firmament unterscheidet. Das 3. Buch Mose greift dieses Schema auf und weist jedem Element das angemessene Tierleben zu." (68) Landtiere haben vier Beine und Klauen zum Laufen (Douglas übersieht, dass nur die Vierfüßer er rein sind, die gespaltene Klauen haben.). Am Firmament brauchen Vögel zwei Flügel und zwei Beine zum Laufen. Im Wasser haben die Fische Flossen und Schuppen zum Schwimmen (Douglas übergeht die Tatsache, dass Schuppen nicht zum Schwimmen benutzt werden.). Alle Tiere, die diese Begrenzungen überschreiten, sind Anomalien und werden als unrein erklärt. Die Tiere, die der richtigen Ordnung nicht entsprechen, sind nach ihrer Ansicht ungeeignet oder "schmutzig". Ihr Konzept von "Schmutz" ist heftig kritisiert worden. (69) Um die Worte von H. Eilberg-Schwartz zu benutzen: "Douglas argumentiert, dass der Schöpfungsmythos (1. Mo 1, 1-2, 4) ein konzeptionelles Modell liefert, um das Universum zu begreifen. Nach Douglas Ansicht stellt dieser Schöpfungsbericht ein kognitives Schema dar, in dem die Realität abgegrenzt und definiert ist.

Alles, was die Klassifikation verletzt, die in dieser Geschichte festgelegt ist, wird wie ein Fehler in der Schöpfung behandelt und ist daher abnormal und unrein. (70) Die Tiere, die der Schöpfungsklassifikation entsprechen, werden als rein und heilig betrachtet.

Die Hypothese von Douglas ist von einer Anzahl Gelehrter (71) übernommen worden. Sie hat aber auch scharfe Kritik von anderen erhalten. Robert Alter behauptete, dass Douglas (und J. Solers) Mutmaßungen nicht erklären, weshalb das Huhn und die Ente als rein angesehen werden, da sie anomal sind und nicht in die festgelegte Klassifikation passen. (72) Das Huhn hat Flügel, aber es fliegt nicht. Die Ente hat Flügel, lebt aber hauptsächlich auf dem Wasser. Dieser Einwand wird als schwerwiegend betrachtet, (73) denn er macht deutlich, dass die verwendete Klassifikationsmethode die Vielfalt der als unrein bezeichneten Tiere nicht konsequent erklärt.

Jacob Milgrom hat an der Hypothese von Douglas bedeutende Berichtigungen vorgenommen, um ihre Anomalienansicht stichhaltiger erscheinen zu lassen. (74) Obwohl es anscheinend eine konzeptionelle Verbindung zwischen 3. Mo 11 und 1. Mo 1 gibt, was wir weiter oben versucht haben, deutlich zu machen, ist es nicht zwingend, dass der Schöpfungsbericht zu den Speisegesetzen in der von Douglas vorgeschlagenen Weise geführt hat. Die Reihenfolge in 3. Mo 11 lautet: Landtiere, Wassertiere, Vögel und geflügelte Insekten. Dagegen weist 1. Mo 1 folgende Reihenfolge auf: Wassertiere, Vögel, Landtiere. Die Klassifikation in 1. Mo 1 wird nur teilweise in 3. Mo 11 wiederholt und außerdem in einer teilweise anderen Anordnung.

Außerdem richten sich nicht alle reinen Tiere nach der mutmaßlichen Schöpfungsklassifikation. Andererseits ist Douglas mit dem Versuch, eine umfassende und nicht eine bruchstückartige Antwort zu finden, auf dem richtigen Weg. Ihre Theorie als Ganzes bleibt problematisch und wird wegen mangelnder Stichhaltigkeit ihres "ursprünglichen Kriteriums (geeignete Mittel der Fortbewegung)" ernsthaft kritisiert; aber auch der Wert der allgemeinen Behauptung ihrer These, dass der Gedanke der Unreinheit, der den biblischen Speisegesetzen zugrundeliegt, auf die Anomalie der verbotenen Tiere hinsichtlich ihrer jeweiligen Klassifikation (Vieh, Fisch, Geflügel) (75) gegründet ist, fand offensichtlich keine Unterstützung.

 
Eine der ältesten Erklärungen ist die der Hygiene/Gesundheit. "Wahrscheinlich ist sie die populärste Erklärung für die Speisegesetze... In alten Zeiten wurden die unreinen Tiere als Gefahr für die Gesundheit betrachtet und deshalb als unrein erklärt", schreibt Gordon Wenham. (76)

Roland E. Clements sagt: "Wir haben hier einen einfachen und verständlichen Leitfaden für Speisen und persönliche Hygiene." (77) Der Hygienestandpunkt wird auch von anderen unterstützt, einschließlich W. F. Albright. (78) R. K. Harrison ist ein moderner Kommentator, der starke Grunde für die Hygiene/Gesundheitsklärung der Speisegesetze vorbringt. Er listet verschiedene parasitische Organismen und Würmer auf, die von unreinen Tieren übertragen werden können, einschließlich der Fische. (79) Es wird berichtet, dass eine toxikologische Untersuchung des Fleisches der in 3. Mo 11 und 5. Mo 14 erwähnten Tiere gezeigt hat, dass es im Vergleich zu reinen Tieren einen bedeutend höheren Prozentsatz toxischer Substanzen im Fleisch unreiner Tiere gibt. (80) Zum Thema der Gesundheit hinsichtlich unreiner und reiner Tiere könnte noch viel gesagt werden. Die Gültigkeit kann nicht so leicht in Abrede gestellt werden.

Auf die Hygiene/Gesundheiterklärung für die Speisegesetze gibt es verschiedene Reaktionen. Unter den Argumenten gegen den Hygiene/Gesundheitsstandpunkt gibt es einige, die kurz an- gesprochen werden sollten. Ein Einwand lautet, dass "andere Völker bestimmte Tiere für unrein gehalten haben oder noch halten; doch ihre Abgrenzungen stimmen selten mit denen der Bibel überein." (81) Der Grund oder die Gründe, weshalb andere Völker einige Tiere für unrein halten, kann/können verschiedene Hintergrunde und Absichten haben, einige davon sind religiös, kultisch, divinatorisch usw. (82) Da die Hintergründe und Absichten variieren, sind die Abgrenzungen nicht unbedingt die gleichen. Ein anderer Einwand legt nahe, dass "einige der reinen Tiere auf hygienischer Vergleichsbasis bedenklicher sind als einige unreine Tiere." (83) Diese Behauptung bleibt unbewiesen. Vermutlich "ist durchaus nicht klar, dass alle unreinen Tiere... schädlich für die Gesundheit sind." (84)

Wir wissen noch nicht alles hinsichtlich des Schadens, den der Verzehr unreiner Tiere über kurze oder lange Zeiträume anrichtet. Ist es notwendig, alle Einzelheiten der Speisevorschriften zu kennen, um sie als verbindlich anzusehen? Ein dritter Einspruch behauptet, dass "das AT keinen Hinweis liefert, dass es diese Speisen als Gefahr für die Gesundheit betrachtet" und dem Speisegesetz motivierende Begründungen fehlen. (85) Was motivierende Begründungen in der hebräischen Sprache betreffen, so muss beachtet werden, dass sie in den meisten Gesetzen und Instruktionen im 3. Buch Mose weitgehend fehlen. Doch nirgendwo gibt es einen Hinweis, dass das Fehlen motivierender Begründungen ein zeremonielles oder auch ein universales Gesetz für ungültig erklärt. So gelten die Beispiele des 3. Buches Mose auch für Kapitel 11. Ob das AT hinsichtlich des Gesundheitsthemas keinen Hinweis gibt, hängt vom Verständnis der Aufforderung "ihr sollt heilig sein" ab (3. Mo 11, 44- 45). Heiligkeit schließt Ganzheit/Unversehrtheit in allen Bereichen ein und schließt das Körperliche nicht aus.

Wenn Hygiene ein Motiv war, so ist eingewendet worden, weshalb sind giftige Pflanzen nicht "als unrein klassifiziert worden." (86) Die Vorschrift für Pflanzen, die zum Essen geeignet sind, ist bereits in 1. Mo 1, 29-30 gegeben worden, eine universale Anweisung, die trotz der Erlaubnis, nach der Sintflut Fleisch bestimmter Tiere zu essen, immer noch gültig ist. Warum sollte sie hier wiederholt werden, wo die Frage der Tiere zur Debatte steht und nicht die Frage der pflanzlichen Nahrung?

Gordon J. Wenham wirft die Frage auf, "falls Gesundheit an erster Stelle der Grund wäre, bestimmte Speisen für unrein zu erklären, weshalb hat der Herr sie zu seiner Zeit für rein erklärt?" (87) Oder anders gefragt, "warum hat die erste Gemeinde ihre (die Vorschriften des AT) Abschaffung im ersten Jahrhundert n. Chr. erlaubt?" (88) Diese Fragen unterstellen, dass die Speisegesetze von Christus und den Aposteln aufgehoben wurden. Dieses Thema verdient eine umfangreiche Untersuchung, die hier nicht durchgeführt werden kann. Wir müssen uns auf einige wesentliche Beobachtungen beschränken:

  1. Im NT gibt es nur einen Text, in dem Jesus eine Aussage zugeschrieben wird, die hier eine gewisse Aufmerksamkeit verlangt. In Mk 7, 19 steht ein kurzer Satz, der in der englischen Übersetzung in Klammer gesetzt ist und oft folgendermaßen wiedergegeben wird: "Damit erklärte er alle Speisen für rein." (NASB). Es ist eine Diskussion im Gange, ob dies eine authentische Aussage Jesu ist. (89) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Übersetzung und Bedeutung dieses Satzes stark angezweifelt werden. Die Worte "damit erklärte er" in Kursivschrift in der NASB weisen darauf hin, dass die griechische Partizipkonstruktion unklar ist und keine direkte syntaktische Verbindung hat. Darin liegt ein ernsthaftes Problem. Die Übersetzung der NASB macht das Partizip (katharizôn, wörtlich "reinigen") von "sprach er" (légei) in Vers 18 abhängig. Einige Kommentatoren sehen die syntaktische Verbindung anders, nämlich als eine Anakoluthie (d. h. das Fortfahren in einer anderen als der begonnenen Satz konstruktion), woraus die offensichtliche Schlussfolgerung gezogen wird, dass der normale Verdauungsprozeß "alle Speisen reinige." (90)
    Noch anders denkt Matthew Black, der das Wort "Speise" (brómata) als Singulär und das nachfolgende Partizip "reinigen" (katharizôn) als Passiv benutzt. Er bietet folgenden Satz an: "Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch, alle Speisen werden ausgestoßen und abgeführt." (91) Jesus sagte in diesem Fall nichts von der Art, wie es in der NASB zu lesen ist. Damit ist klar, dass diese Meinungsverschiedenheiten deutlich machen, dass dieser kleine Satz, so wie er dort steht, schwer verständlich ist.
    Wenn einige der erwähnten Vorschläge korrekt sind, dann hatte der Satz nichts damit zu tun, dass Jesus alle Speisen für rein erklärt hat. Mit diesem Satz ist Vorsicht angebracht.
  2. Unsere zweite Beobachtung betrifft die Frage, was Jesus mit diesem Satz gemeint hat, wenn man sich der Übersetzung der NASB anschließt. Ein kurzer Kommentar zum Wort "Speisen" (brómata) kann hier hilfreich sein. Da Mk 7, 19 in einem größeren Kontext rabbinischer Speisevorschriften (Mk 7, 3-5) erscheint, würde der Gedanke an unreine Tiere bei "Speisen" nicht einmal aufkommen, da sie für einen aufrichtigen Juden oder Rabbi zurzeit Jesu nicht als Speise betrachtet wurden
  3. Eine dritte Überlegung ist angebracht. Beschäftigt sich der Textabschnitt in Mk 7, 1-23, von dem Jesu Aussage in Vers 19 ein Teil ist, mit der Unterscheidung von rein und unrein in 3. Mo 11 und 5. Mo 14 oder mit der Unterscheidung von rein/unrein der Rabbiner, nämlich mit der jüdischen Tradition? Wenn letzteres der Fall ist, dann hat Jesu Aussage nichts mit dem Speisegesetz in 3. Mo 11 und 5. Mo 14 zu tun.

    Argumentiert Jesus innerhalb des Kontextes von Mk 7 gegen das Speisegesetz des von Gott gegebenen Pentateuch oder gegen das mündliche Gesetz (halacha), das von den Rabbinern Gottes Gesetzen hinzugefügt wurde? Es ist wichtig den ganzen Abschnitt in Mk 7, 1-23 zu berücksichtigen und eine atomistische, formkritische Trennung in kleinen Einheiten zu vermeiden. Mk 7, 2-5 zeigt deutlich, dass es sich um die Frage der "Satzungen der Ältesten" handelt (Vers 3) und dass die Jünger Brot gegessen hatten, ohne die angemessenen Vorschriften der Rabbiner für das Händewaschen, gemäß einer besonderen menschlichen Tradition, zu beachten, wodurch sie die reine Speise, die sie aßen, unrein machten. In den Versen 7-10 erhöht Jesus das Gesetz Gottes, stellt es den "Satzungen der Menschen" gegenüber (Vers 8) und macht damit erkennbar, dass Jesus Gottes Gesetze aufrechterhält und in den Versen 7 und 10 sogar Mose in einem positiven Sinn einbringt. Jesus stellt sich also nicht gegen das göttliche Gesetz, sondern gegen die menschliche Tradition. Joachim Jeremias macht klar, dass die Schlüsselaussage Jesu in Vers 15 "keine Aufhebung aller Vorschriften der Thora in bezug auf reine und unreine Speisen bedeutet (3. Mo 11, 5. Mo 14, 3-21: reine und unreine Tiere)", (92) sondern dass Jesus die "rabbinische Reinheitshalacha" zurückweist. (93) Auch C. E. B. Cranfield argumentiert, dass Jesus im Kontext von Mk 7, 1-13 "die Partei des geschriebenen Gesetzes gegen das mündliche Gesetz (halacha) ergreift." (94)

    Diese Gelehrten vertreten die Meinung, dass Mk 7, 1-23 nicht zergliedert werden sollte und dass der ganze Abschnitt, der mit Vers 23 abschließt der richtige Kontext des Verses 19 ist. Der Standpunkt scheint stichhaltig zu sein. William H. Lane, ein anderer Kommentator, schreibt über Mk 7, 19: "Jesus hat nicht die Absicht, die Reinheitsgesetze, die einen bedeutenden Platz im mosaischen Kodex einnahmen (3. Mo 11, 1-47; 5. Mo 14, 1-20) in Abrede zu stellen oder das Ansehen von Menschen zu schmälern, die lieber den Tod erlitten, als das Gesetz Gottes zu verletzen, das für die unreinen Speisen maßgebend ist (1. Makk 1,62 f). Vielmehr drängt er auf die Anerkennung der Tatsache, dass vor Gott letzten Endes das Herz der wichtigste Platz der Reinheit oder Verunreinigung ist." (95) Diese Ausleger zeigen auf der Grundlage des Kontextes, dass die Schlussfolgerung, Jesus hätte die Unterscheidung von rein und unrein in den Speisegesetzen der Thora beseitigt, unangebracht ist. Auf der Basis des Paralleltextes in Mt 15, 1-20, in dem die Aussage von Mk 7, 19 fehlt, scheint dies unterstützt zu werden.

    Die Debatte in Markus richtet sich gegen die "Tradition der Menschen" z. B. gegen die rabbinischen Reinheitsgesetze, die vorschrieben, wie die Hände vor dem Essen gewaschen werden mußten, damit man sich durch das Essen nicht rituell verunreinigte. Jesus erklärte alle "Speisen" für rituell rein, die mit rituell "unreinen Händen" (Vers 5) gegessen wurden. Jesus beseitigte nicht die Unterscheidung von nicht rituell reinen/unreinen Tieren in 3. Mo 11 (5. Mo 14), wie es der Kontext deutlich macht und worauf das Wort "Speisen" (brómata) im Griechischen hinweist. Dieses Wort wird nie zur Unterscheidung des Fleisches reiner Tiere von anderen Fleischarten oder Speisen benutzt.
  4. Andere Kapitel des NT, die sich mit Speisefragen oder Tieren für Götzenopfer befassen, können wir hier nicht im Detail besprechen. Der Textabschnitt in Apg 10- 11 wird jedoch häufig als Hinweis zu Hilfe gerufen, dass die Unterscheidung von unreinen/reinen Tieren für Christen beseitigt ist. Es wurde nachgewiesen, dass die Unterscheidung von "gemein" (koinós/koinóo) und "unrein" (akáthartos) von wichtiger Bedeutung ist und dass die Tradition des Judaismus, nicht die des AT, "Reines" zu etwas "Gemeinem" (oder "Beflecktem") durch Berührung mit "Unreinem" machte. So wurden die "reinen" Tiere durch die Berührung (im Tuch) mit den unreinen Tieren "gemein" gemacht.

    Petrus erwidert auf den Befehl: "Schlachte und iss!" (Apg 10, 13): "O nein, Herr; denn ich habe noch nie etwas Gemeines (koinós) und Unreines (akáthartos) gegessen" (Vers 14). Ganz offensichtlich hatte Petrus Jesu Aussage in Mk 7, 19 nicht im Sinne einer Aufhebung der Unterscheidung des Gesetzes von reinen und unreinen Tieren verstanden! "Unrein" waren die Tiere, die in den Speisegesetzen des Pentateuch als solche erklärt waren. "Gemein" waren die Tiere, die nach den Speisegesetzen "rein" waren, in der jüdischen Tradition, aber durch den Kontakt mit "unreinen" "gemein" geworden waren. Die rabbinische Erklärung, dass "rein" durch Kontakt mit "unrein" "gemein" wird, stand in direktem Widerspruch zum AT, in dem "unreine" Tiere durch Kontakt nichts "gemein" oder "unrein" machten, wie wir zuvor gezeigt haben. Deshalb weist die Erklärung "Was Gott gereinigt (katharízo) hat, das nenne du nicht gemein" (koinós), Vers 15, RSV, darauf hin, dass "du", Petrus, als Mensch durch menschliches Handeln nicht etwas als "gemein" bezeichnen kannst, was Gott zu etwas anderem erklärt hat. Was Gott als gereinigt erklärt hat, (96) darf nicht zu etwas gemacht werden, was bei Menschen "gemein" ist. Deshalb werden Heiden nicht als "unrein" oder "gemein" betrachtet und daher als unwürdig angesehen, Glieder der Gemeinschaft der Anbeter Gottes zu sein. Diese unhaltbare rabbinische Unterscheidung, die der menschlichen Gesellschaft auferlegt wurde, war gegen Gottes Aussage gerichtet und Petrus und andere Christen waren an diese jüdischen Traditionen, in den Beziehungen zwischen Juden und Heiden, nicht gebunden. (97) Auch hier ist das Problem nicht die Speise, die gegessen werden darf, sondern es ist ein Fall sozialer Beziehungen und der Gemeinschaft zwischen Juden und Heiden.

    Jetzt müssen wir zu dem in 3. Mo 11, 44-45 erwähnten Motiv und zur expliziten rationalen Erklärung für die Speisegesetze zurückkehren, nämlich zum Aufruf "werdet heilig; denn ich bin heilig" (Vers 44). Außerdem wird daran erinnert: "Denn ich bin der Herr, der euch aus Ägyptenland geführt hat, dass ich euer Gott sei. Darum sollt ihr heilig sein, denn ich bin heilig" (Vers 45). Diese Verse liefern ihre eigene rationale Erklärung, indem sie die Sache der reinen/unreinen Tiere mit den zwei großen Themen der Heiligkeit und Errettung aus der ägyptischen Sklaverei verknüpfen. In 5. Mo 14, 2 lautet die Einleitung zum Speisegesetz: "Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott, und der Herr hat dich erwählt, dass du sein Eigentum seiest, aus allen Völkern, die auf Erden sind." W. Gispen erwähnt, "dass Heiligkeit das höchste Motiv dieser (Speise)Gesetze ist" und die "einzige zufriedenstellende Erklärung für die Unterscheidung zwischen rein und unrein darin zu suchen ist, dass der Heilige durch diese Vorschriften die Notwendigkeit deutlich macht, dass sein Volk ein heiliges Volk ist, eine Nation, die sich von anderen Nationen unterscheidet." (98)

    Heiligkeit bedeutet beides: Absonderung vom Unheiligen und Absonderung für Gott. Genauso gut kann gesagt werden, dass Heiligsein eine Teilhabe an der Einzigartigkeit Gottes bedeutet, der heilig ist. Der Gläubige, der die Anweisungen des Speisegesetzes befolgt, wird zu einem "imitatio dei", (99) d. h. der Gläubige folgt dem Beispiel und Vorbild Gottes. Der "Textus classicus" für den Gedanken eines "heiligen Volkes" ist 2. Mo 19, 3-6. Israel war aus der ägyptischen Sklaverei errettet worden und befindet sich am Fuße des Sinai, um in die Bundesbeziehung mit Gott einzutreten. In diesem entscheidenden Augenblick verkündet Israels Erretter: "Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein" (Vers 6). Die Verbindung von dem "heiligen Volk" in 2. Mo 19, 6 und dem Imperativ "werdet heilig" als Volk, indem ihr nicht von den unreinen Tieren in 3. Mo 11, 44-45 eßt, ist besonders beeindruckend. In 3. Mo 11, 44-45 wird das Thema eines heiligen Volkes zum erstenmal seit der ersten Erwähnung in 2. Mo 19, 6 wieder aufgegriffen. Unter den verschiedenen Aspekten Israels, ein "heiliges" (qadôsh) Volk zu sein und sich abzusondern oder sich für Gott zu "heiligen" (qadash, Piel in 3. Mo 11, 44), tritt die Speiseverordnung, sich vom Essen des Fleisches unreiner Tiere zu enthalten, besonders hervor. Ein "heiliges Volk" zu sein bedeutet unter anderem auch, die göttlichen Speisevorschriften zu befolgen.

    Es ist wohlbekannt, dass die Terminologie im Hebräischen für solche in Wechselbeziehung stehenden Gedanken wie "heilige" (qadôsh) "Heiligkeit" (qodesh) und "heiligen" (qadash, Piel) selbstverständlich von derselben hebräischen Wurzel (qdsh) stammt und die umfassendere Bedeutung von Heiligkeit, Ganzheit (Unversehrtheit), Wohlbefinden und Ähnlichem anzeigt. Es ist aufschlußreich, dass in der verwandten semitischen Sprache "Akkadisch" das Verb qadashu(m) die Doppelbedeutung von "Heilig"- und "Reinsein" hat, was auch bei anderen Worten, die von derselben Wortwurzel abstammen, offenkundig wird. (100) Über die Schriften Moses hinausgehend gibt es deshalb eine größere Wechselbeziehung zwischen heilig und rein.

    Das Thema des "heiligen Volkes" ist im 5. Buch Mose (7, 6; 14, 2; 21; 26, 19; 28, 9) aktuell. Im Buch Jesaja wird der zukünftige Überrest zum erstenmal "heilig" genannt (4, 2). (101) Jesaja zeigt, dass es einen wahren und "heiligen" Überrest von Gläubigen geben wird, der die Absichten des Herrn ausführt, während das alte Israel vernichtet wird. Der Gott der Treuen und "Heiligen" wird als der "Heilige Israels" bezeichnet. Im Buch Daniel gibt es Menschen, die dem Druck der antigöttlichen Mächte widerstehen, selbst der Verfolgung in der Endzeit; und sie werden "Heilige des Höchsten" (trad. "Heilige") genannt (7, 21+25 NRSV). Am Ende der Geschichte werden diese "Heiligen" Gottes, diese heiligen Gläubigen, vom Menschensohn das ewige Königreich empfangen (Da 7, 22)

    Das NT greift den Zusammenhang dieser "Heiligen" ("holy ones"), den hagioi, auf und übersetzt es mit dem Wort "Heilige" ("saints") - buchstäblich "holy ones". 2. Mo 19, 6 wird für die Gemeinde als Gemeinschaft der "Heiligen" bzw. für "Heilige" verwendet. Petrus schreibt: "Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk (ethnos hagion), das Volk des Eigentums" (1. Pt 2, 9). Petrus macht deutlich, dass der Ausdruck "heiliges Volk" aus 2. Mo 19, 6 nicht mehr wörtlich als ethnisches Israel zu verstehen ist, vielmehr ist es eine neue Gemeinschaft von Gläubigen, die Gemeinde. (102) Daraus ergibt sich, dass die neue Gemeinschaft wahrer Gläubiger, dieses "heilige Volk" Gottes, die heilige Lebensweise befolgen wird, die Gott für sie bestimmt hat. Die "heiligen" Übrigen, die sich aus den "Heiligen" (hagioi) zusammensetzen, werden Gottes Plan für einen Lebensstil der Heiligkeit einschließlich des universalen Speisegesetzes befolgen, wodurch ihre Ablehnung gegenüber allem, was schädlich und zerstörerisch ist, und damit ihre Ganzheit/Unversehrtheit in Gott offenkundig wird. Die Gemeinschaft der wahren Gläubigen ist jetzt das Israel Gottes, das "heilig" sein und sich für das "imitatio dei" einsetzen soll. In dieser Identifizierung wird erkennbar, weshalb Israel das Speisegesetz im AT gegeben wurde. Heute ist Gottes Israel des Neuen Bundes die Gemeinschaft der treuen Übrigen, die wieder zur Heiligkeit aufgerufen wird.

    Apg 15, 20 schreibt vor, dass sich auch die neuen Gläubigen "enthalten sollen von Befleckung durch Götzen, von Unzucht, vom Erstickten und vom Blut." Ganz gewiß reflektieren diese vier verbindenden Verbote der sogenannten apostolischen Verordnung das universale Gesetz in 3. Mo 17-18 (103) und 1. Mo 9. Stillschweigend inbegriffen in diese vierfältige, 3. Mo 17-18 entnommene Reihenfolge, die wie bereits gezeigt, konzeptionell, terminologisch und vom Thema her mit 3. Mo 11, 2-23, 40-45, 20, 25-26 und 5. Mo 14, 3-20 verbunden ist, ist auch die in 3. Mo 17, 13 implizierte Unterscheidung von rein/unrein, was Tiere und Vögel betrifft, die man essen darf. Die Gläubigen des NT bilden das "heilige", von Gott verheißene "Volk". Es ist ein heiliges Volk, das auch weiterhin "einen Unterschied zwischen reinen und unreinen Tieren macht" (3. Mo 20, 25) und deshalb auf diesem Gebiet wie auf anderen aufgefordert wird "heilig zu sein in eurem ganzen Wandel" (1. Pt 1, 15). Diese Übersicht der in Wechselbeziehung stehenden Gedanken von Reinheit in Speisen und Heiligkeit im Lebensstil in all ihren Verzweigungen können nur auf das umfangreiche biblische Bild von einem "heiligen Volk hindeuten", das sich völlig seinem Gott und Christus, seinem Herrn, geweiht hat. Es liefert jedoch nur eine Andeutung in Bezug auf das unvergleichliche Potential dieser treuen, wahren und "heiligen" Übrigen der Endzeit.