Konzeptionelle Zusammenhänge in 3. Mose 11
Ausleger haben keine Schwierigkeit anzuerkennen, dass die Unterscheidung von rein und unrein in 3. Mo 11 nicht zum ersten Mal auftaucht. Zum ersten Mal erscheint diese Unterscheidung in 1. Mo 7, 2-8, ein Text, der von historisch-kritischen Theologen dem J-Stratum zugeordnet wird. (33) Die Quellen-Scheidungs-Hypothese unterliegt einer derart radikalen Revision, dass sie bei unseren Überlegungen keine Berücksichtigung finden braucht. (34)
Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Textstelle in 1. Mo 7 dem Textabschnitt in 3. Mo 11 und 5. Mose 14 in Zeit und Rahmen vorausgeht. Der ganze Rahmen in 1. Mo 1-11 hat eine universale Zielsetzung. (35) Es wird darauf hingewiesen, "dass man sich keine Zeit vorstellen kann, in der es menschliche Wesen gegeben hat, die den Unterschied zwischen rein unrein [bei Tieren] nicht begriffen hatten."(36) Für unsere Überlegungen spielt es keine Rolle, ob die in 1. Mo 7 erwähnte Unterscheidung "zwischen reinen und unreinen Tieren... eine Unterscheidung ist, die auf ihre Nützlichkeit für Menschen gegründet ist und nicht auf spätere gesetzliche Überlegungen", (37) oder ob es um der Opfer willen bekannt war (38) oder aus irgendeinem anderen Grunde.
Da Nah nach der Sintflut "von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln" opferte (1. Mo 8, 20), muss zugegeben werden, dass er die unreinen Tiere, von denen nur je ein Paar in der Arche waren, ausgerottet hätte, wenn er von diesen Arten geopfert hätte. Die Unterscheidung zwischen rein/unrein in dieser Frühzeit und im universalen Kontext ist nicht allein darum wichtig, weil nur reine Tiere und Vogel als Opfer benutzt wurden, sondern weil auch den Menschen nach der Sintflut erlaubt wurde, Tiere zu essen (1. Mo 9, 3-5). Die Folgerung ist, dass sie nur die reinen Tiere essen durften. Hatten sie sofort die unreinen Tiere gegessen, dann hätte Noah die unreinen Tierarten, die die Sintflut überlebten, ausgerottet. In diesem präisraelitischen Abschnitt in 1. Mo 9 wird außerdem gesagt, dass der Mensch nicht das Fleisch mit seinem Blut essen soll (Vers 4). Dies ist ein universales Gesetz und somit bindend, wie die apostolische Verfügung in Apg 15, 20 eindeutig erkennen lässt.
Für unsere Diskussion ist es wesentlich, dass die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren bekannt war, bevor die Israeliten existierten. Deshalb kann behauptet werden, dass die Unterscheidung von reinen/unreinen Tieren generell für die Menschheit gilt. Sie gilt uneingeschränkt in Bezug auf Anwendungsbereich und Bestimmung und liegt außerhalb des Rahmens der zeremoniellen Gesetzgebung für das alte Israel in späterer Zeit.
Diese Tatsachen scheinen zu bestätigen, dass die Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren kein Produkt der hebräischen kultischen Gesetzgebung ist, sondern bis in präisraelitische Zeiten zurückreicht. Man ist deshalb zu dem Ergebnis gekommen, dass "die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren nicht von Mose stammt, sondern von ihm als eine schon lang bestehende Gewohnheit bestätigt wurde..." (39)
Die Schlussfolgerung, dass die Unterscheidung von reinen/unreinen Tieren ihren Ursprung nicht in der mosaischen Gesetzgebung hat, ist fest verankert. (40) Die rein/unrein- Tierunterscheidung ist mit anderen fundamentalen Ordnungen verbunden, die den israelitischen Zeiten vorausgehen und bis in die Geschichte der Anfänge der nachsintflutlichen Periode zurückgehen. Die rein/unrein-Tierunterscheidung ist mit ewigen Wahrheiten wie Ehe (1. Mo 2, 18-25), Sabbat (1. Mo 2, 1-3) und Ähnlichem verbunden. (41)
Es gibt eine zweite große konzeptionelle Verbindung zwischen dem Speisegesetz in 3. Mo 11, 2-23, 41-45 und den historischen Anfangen in 1. Mo 1-11. Noch präziser gesagt ist es die Klassifikation oder Taxonomie der Tiere in 3. Mo 11, die der Klassifikation, Taxonomie und der Reihenfolge der Tierwelt im Schöpfungsbericht entspricht (1. Mo 1, 20-25). 1. Mo 1, 20-25 enthält die Reihenfolge der Tierwelt in der Schöpfungsordnung angefangen von Fischen (Vers 20a) über die Vogel (Vers 20b) bis zu den Landtieren (Verse 24-25), die grundsätzlich mit der Reihenfolge der Tiere im Wasser, in der Luft und auf dem Land übereinstimmt. 3. Mo 11, 9-31 enthält die Reihenfolge von Wassertieren (Verse 9-12), fliegenden Lebewesen (Verse 13-23) und Landtieren (Verse 24-31). (42) Natürlich enthalten die Verse 2-8 bereits eine Beschreibung der großen Landtiere und deshalb stimmt die Reihenfolge nicht völlig und eng mit der Reihenfolge in 1. Mo 1 überein. Nichtsdestoweniger besteht hier eine folgerichtige Verbindung, die man nicht leugnen kann. Es kann nahe gelegt werden, dass es auch hier wieder einen Hinweis auf einen größeren gedanklichen Zusammenhang gibt als dies eingeräumt wird, wenn 3. Mo 11 nur auf rein rituelle/kultische Zusammenhänge beschränkt wird.
Es wurde außerdem festgestellt, dass die Benutzung von zwei verschiedenen Bezeichnungen für Tiere in 3. Mo 11, 2 eine Reflexion des Schöpfungsberichts in 1. Mo 1 darstellt. (43) Der Wortlaut in 3. Mo 11, 2 weist darauf hin, dass es "Tiere" (hebr. chuyyôth) gibt, (44) die in diesem Kontext gattungsbezogen "lebende Tiere" bedeuten (45), die von allen Land"tieren" (hebr. behemôth) gegessen werden dürfen, eine unter der allgemeinen Klassifikation von chayyôth "lebenden Dingen" oder "lebenden Tieren" zusammengefasste Gruppe. (46)
Diese Unterscheidung zwischen der gattungsbezogenen Gruppe von chayyah "lebende Tiere" und der besonderen Gruppe der behemah, "Landtiere", entspricht der Klassifizierung in 1. Mo 1, 24. In diesem Text ist chayyah der Gattungsname und das Wort behemah wieder eine besondere Gruppe von "Landtieren". (47) Offensichtlich besteht eine enge Verbindung zwischen der Klassifizierung des Schöpfungsberichts und der Taxonomie, die in 3. Mo 11 benutzt wird. Die Verbindung zwischen 3. Mo 11 und 1. Mo 1 scheint bestätigt, (48) weil sie die Texte in den gemeinsamen konzeptionellen Rahmen einer universalen Betrachtungsweise stellt. Aufgrund dieser Zusammenhänge wird erklärt, dass hier der Versuch unternommen wird, "sie (die Speisegesetze) mit dem Schöpfungsbericht zu verknüpfen." (49)